ZWEITER AKT
ERSTE SZENE
Mariens Stube. Vormittag, Sonnenschein. Marie, ihr Kind auf dem Schoss, hält ein Stückchen Spiegel in der Hand und besieht sich darin.
MARIE
Was die Steine glänzen?
Was sind's für welche?
Was hat er gesagt?
überlegt; zu ihrem Buben, der sich bewegt hat
Schlaf, Bub! Drück die Augen zu ...
Das Kind versteckt die Augen hinter den Händen
Fest. Noch fester! Bleib so!
Das Kind bewegt sich wieder
Still, oder er holt Dich!
Mädel, mach's Lädel zu!
's kommt ein Zigeunerbu',
Führt Dich an seiner Hand
Fort ins Zigeunerland.
Das Kind hat, in höchster Angst, seinen Kopf in den Falten des Kleides seiner Mutter verborgen, wo es ganz still hält. Marie besieht sich wieder im Spiegel
's ist gewiss Gold.
Unsereins hat nur ein Eckchen in der Welt und ein Stückchen Spiegel.
ausbrechend
Und doch hab' ich einen so roten Mund, als die grossen Madamen mit ihren Spiegeln von oben bis unten und ihren schönen Herrn, die ihnen die Hände küssen;
aber ich bin nur ein armes Weibsbild!
Das Kind richtet sich auf; Marie ärgerlich
Still! Bub! Die Augen zu!
blinkt mit dem Spiegel
Das Schlafengelchen; wie's an der Wand läuft.
Das Kind gehorcht nicht; Marie fast zornig
Mach die Augen zu! Oder es sieht Dir hinein, dass Du blind wirst ...
blinkt wieder mit dem Spiegel. - Wozzeck tritt herein, hinter Marie. Marie, die regungslos, wie das eingeschüchterte Kind, die Wirkung ihres Spiels mit dem Spiegel abwartet, sieht Wozzeck anfangs nicht. Plötzlich fährt sie auf, mit den Händen nach den Ohren.
WOZZECK
Was hast da?
MARIE
Nix!
WOZZECK
Unter Deinen Fingern glänzt's ja.
MARIE
Ein Ohrringlein… hab's gefunden…
WOZZECK
schaut das Ohrringlein prüfend an
Ich hab so was noch nicht gefunden,
etwas drohend
zwei auf einmal.
MARIE
Bin ich ein schlecht Mensch?
WOZZECK
beschwichtigend
's ist gut, Marie! 's ist gut
wendet sich zum Buben
Was der Bub immer schläft!
Greif ihm unter's Ärmchen, der Stuhl drückt ihn.
Die hellen Tropfen stehn ihm auf der Stirn ...
Nichts als Arbeit unter der Sonne,
sogar Schweiss im Schlaf.
Wir arme Leut!
in ganz verändertem Ton
Da ist wieder Geld, Marie,
zählt es ihr in die Hand
die Löhnung und was vom Hauptmann und vom Doktor.
MARIE
Gott vergelts, Franz.
WOZZECK
Ich muss fort, Marie ... Adios!
ab
MARIE
allein
Ich bin doch ein schlecht Mensch.
Ich könnt mich erstechen.
Ach! was Welt!
Geht doch Alles zum Teufel:
Mann und Weib und Kind!
Verwandlung - Orchester-Nachspiel
ZWEITE SZENE
Strasse in der Stadt. Tag. Der Hauptmann und der Doktor begegnen sich.
HAUPTMANN
schon aus der Entfernung
Wohin so eilig, geehrtester Herr Sargnagel?
DOKTOR
sehr pressiert
Wohin so langsam, geehrtester Herr Exercizengel?
HAUPTMANN
Nehmen Sie sich Zeit
will den Doktor, der rasch weitergeht, einholen
DOKTOR
Pressiert!
HAUPTMANN
Laufen Sie nicht so! Uff!
schöpft tief und geräuschvoll Atem
Laufen Sie nicht!
Ein guter Mensch geht nicht so schnell.
Ein guter Mensch…
DOKTOR
Pressiert, pressiert!
HAUPTMANN
Ein guter… Sie hetzen sich ja hinter dem Tod d'rein!
DOKTOR
im Gehen etwas einhaltend, so dass ihn der Hauptmann einholt, ärgerlich
Ich kann meine Zeit nicht stehlen.
HAUPTMANN
Ein guter Mensch ...
DOKTOR
Pressiert, pressiert, pressiert!
HAUPTMANN
erwischt den Doktor einigemale am Rock
Aber rennen Sie nicht so, Herr Sargnagel!
Sie schleifen ja Ihre Beine auf dem Pflaster ab.
hält den Doktor endlich fest; zwischen den einzelnen Worten tief keuchend
Erlauben Sie, dass ich ein Menschenleben
sich langsam beruhigend
rette
tiefer Atemzug
DOKTOR
langsam weitergehend, entschliesst sich, dem Hauptmann Gehör zu schenken
Frau, in vier Wochen tot!
bleibt wieder stehen, geheimnisvoll
Cancer uteri.
Habe schon zwanzig solche Patienten gehabt
will weitergehen
In vier Wochen ...
HAUPTMANN
Doktor, erschrecken Sie mich nicht!
Es sind schon Leute am Schreck gestorben,
am puren hellen Schreck!
DOKTOR
In vier Wochen!
Gibt ein intressantes Präparat.
HAUPTMANN
Oh, oh, oh!
DOKTOR
ganz stehenbleibend, kaltblütig den Hauptmann prüfend
Und Sie selbst!
Hm! Aufgedunsen,
fett, dicker Hals,
apoplektische Konstitution!
Ja, Herr Hauptmann,
geheimnisvoll
Sie können eine Apoplexia cerebri kriegen; Sie können sie aber vielleicht nur auf der einen Seite bekommen.
Ja! Sie können nur auf der einen Seite gelähmt werden,
wieder sehr geheimnisvoll
oder im besten Fall nur unten!
HAUPTMANN
stöhnend
Um Gottes…
DOKTOR
überströmend, begeistert
Ja! Das sind so ungefähr Ihre Aussichten auf die nächsten vier Wochen!
Übrigens kann ich Sie versichern, dass Sie einen von den interessanten Fällen abgeben werden,
und wenn Gott will, dass ihre Zunge zum Teil gelähmt wird, so machen wir die unsterblichsten Experimente.
will mit rascher Wendung enteilen, Hauptmann langt schnell nach dem Doktor und hält ihn fest.
HAUPTMANN
Halt, Doktor! Ich lasse Sie nicht!
Sargnagel! Totenfreund! In vier Wochen?
schon ganz atemlos
Es sind schon Leute am puren Schreck ... Doktor!
hustet vor Aufregung und Anstrengung. Doktor klopft dem Hauptmann auf den Rücken, um ihm das Husten zu erleichtern, Hauptmann gerührt
Ich sehe schon die Leute mit den Sacktüchern vor den Augen.
immer gerührter
Aber sie werden sagen:
»Er war ein guter Mensch, ein guter Mensch.«
Wozzeck geht rasch verbei, salutiert. Der Doktor, der peinlich berührt ist und abzulenken sucht,
sieht Wozzeck
DOKTOR
He, Wozzeck!
Wozzeck bleibt stehen
Was hetzt Er sich so an uns vorbei?
Wozzeck salutiert und will wieder gehen
Bleib Er doch, Wozzeck!
Wozzeck bleibt schliesslich stehen und kommt langsam zurück.
HAUPTMANN
wieder gefasst, zu Wozzeck
Er läuft ja wie ein offenes Rasiermesser durch die Weit,
man schneidet sich an Ihm!
betrachtet Wozzeck näher, der stumm und ernst dasteht. Wendet sich daher - etwas beschämt - zum Doktor. Mit Anspielung auf dessen Vollbart
Er läuft, als hätt' er die Vollbärte aller Universitäten zu rasieren, und würde gehängt, so lang noch ein letztes Haar…
HAUPTMANN
Ja richtig,
pfeift
die langen Bärte ...
was wollte ich doch sagen?
nachsinnend, hie und da in Gedanken pfeifend
die langen Bärte ...
DOKTOR
zitierend
»Ein langer Bart unter dem Kinn« ...
hm! … schon Plinius spricht davon.
Hauptmann kommt durch die Anspielung des Doktors darauf und schlägt sich auf die Stirn
Man muss ihn den Soldaten abgewöhnen…
HAUPTMANN
sehr bedeutsam
Ha! Ich hab's ... die langen Bärte!
Was ist's, Wozzeck?
Doktor hört von hier an belustigt dem Hauptmann zu und summt hie und da sein Thema, indem er mit seinem Spazierstock, gleich einem Tambourstab, den Takt dazu markiert
Hat Er nicht ein Haar aus einem Bart in seiner Schüssel gefunden?
Haha! Er versteht mich doch?
Ein Haar von einem Menschen, vom Bart eines Sappeurs, oder eines Unteroffiziers, oder eines Tambourmajors.
DOKTOR
He, Wozzeck? Aber Er hat doch ein braves Weib?
WOZZECK
Was wollen Sie damit sagen, Herr Doktor, und Sie, Herr Hauptmann?!
HAUPTMANN
Was der Kerl für ein Gesicht macht!
Nun! Wenn auch nicht grad in der Suppe, aber wenn Er sich eilt und um die Ecke läuft, so kann Er vielleicht noch auf einem Paar Lippen eins finden!
Ein Haar nämlich!
Übrigens, ein Paar Lippen!
Oh, ich habe auch einmal die Liebe gefühlt! -
Aber, Kerl, Er ist ja kreideweiss!
WOZZECK
Herr Hauptmann, ich bin ein armer Teufel!
Hab' sonst nichts auf dieser Welt!
Herr Hauptmann, wenn Sie Spass machen ...
HAUPTMANN
auffahrend
Spass? Ich? Dass Dich der …
WOZZECK
Herr Hauptmann, die Erd' ist Manchem höllenheiss ...
HAUPTMANN
Spass, Kerl? will Er sich erschiessen?
WOZZECK
... die Hölle ist kalt dagegen.
DOKTOR
Den Puls, Wozzeck!
ergreift Wozzecks Puls
Klein … hart … arhythmisch.
HAUPTMANN
Er sticht mich ja mit seinen Augen!
WOZZECK
Herr Hauptmann ...
entreisst seine Hand dem Doktor
HAUPTMANN
Ich mein's gut mit Ihm,
weil Er ein guter Mensch ist ...
WOZZECK
vor sich hin, aber mit Steigerung
Es ist viel möglich ...
DOKTOR
betrachtet Wozzeck prüfend
GesichtsmuskeIn starr, gespannt, Augen stier.
HAUPTMANN
gerührt
... Wozzeck, ein guter Mensch ...
WOZZECK
Der Mensch ... es ist viel möglich ... Gott im Himmel!
Man könnte Lust bekommen, sich aufzuhängen!
Dann wüsste man, woran man ist!
stürzt, ohne zu grüssen, davon
HAUPTMANN
blickt Wozzeck betreten nach
Wie der Kerl läuft und sein Schatten hinterdrein!
DOKTOR
Er ist ein Phänomen, dieser Wozzeck!
HAUPTMANN
Mir wird ganz schwindlich vor dem Menschen!
Und wie verzweifelt!
Das hab' ich nicht gern!
Ein guter Mensch ist dankbar gegen Gott;
ein guter Mensch hat auch keine Courage!
mit Beziehung auf Wozzeck
Nur ein Hundsfott hat Courage!
schliesst sich dem Doktor an, der einen neuen Gefühlsausbruch befürchtet und sich bei diesem Wort des Hauptmanns, als besänne er sich der Eile zu Anfang der Szene, in Bewegung setzt. Hauptmann schon in Abgehen
Nur ein Hundsfott! ...
hinter der Szene
Hundsfott ...
Verwandlung - Überleitende Takte und Kammerorchester-Einleitung
DRITTE SZENE
Strasse vor Mariens Wohnungstür. Trüber Tag.
Marie steht vor ihrer Tür.
Wozzeck kommt auf dem Gehsteig rasch auf sie zu.
MARIE
Guten Tag, Franz.
WOZZECK
sieht sie starr an und schüttelt den Kopf
Ich seh' nichts, ich seh' nichts.
O, man müsst's seh'n, man müsst's greifen können mit den Fäusten!
MARIE
Was hast, Franz?
WOZZECK
Bist Du's noch, Marie?!
Eine Sünde, so dick und breit.
Das müsst' stinken,
dass man die Engel zum Himmel hinausräuchern könnt'.
Aber Du hast einen roten Mund, einen roten Mund ...
keine Blase drauf?
MARIE
Du bist hirnwütig, Franz, ich fürcht' mich ...
WOZZECK
Du bist schön »wie die Sünde«.
Aber kann die Todsünde so schön sein, Marie?
zeigt plötzlich auf eine Stelle vor der Tür, auffahrend
Da! Hat er da gestanden,
in Positur
so, so?
MARIE
Ich kann den Leuten die Gasse nicht verbieten.
WOZZECK
Teufel! Hat er da gestanden?
MARIE
Dieweil der Tag lang und die Weit alt ist, können viele Menschen an einem Platze stehn, einer nach dem andern.
WOZZECK
Ich hab ihn gesehn!
MARIE
Man kann viel sehn, wenn man zwei Augen hat und wenn man nicht blind ist und wenn die Sonne scheint.
WOZZECK
der sich immer weniger beherrschen kann, ausbrechend
Du bei ihm!
MARIE
Und wenn auch!
WOZZECK
geht auf sie los, schreien
Mensch!
MARIE
Rühr' mich nicht an!
Wozzeck lässt langsam die erhobene Hand sinken
Lieber ein Messer in den Leib, als eine Hand auf mich.
Mein Vater hat's nicht gewagt, wie ich zehn Jahr alt war ...
ins Haus ab
WOZZECK
sieht ihr starr nach
»Lieber ein Messer« ...
scheu flüsternd
Der Mensch ist ein Abgrund,
es schwindelt Einem, wenn man hinunterschaut
im Abgehen
mich schwindelt ...
Verwandlung - Überleitende Takte und Orchester-Vorspiel (Ländler)
VIERTE SZENE
Wirtshausgarten. Spät abends. Die Wirtshausmusik auf der Bühne beendet soeben den Ländler des Orchester-Vorspiels. Burschen, Soldaten und Mägde auf dem Tanzboden, teils tanzend, teil zusehend.
ERSTER HANDWERKSBURSCHE
Ich hab' ein Hemdlein an, das ist nicht mein,
ZWEITER HANDWERKSBURSCHE
Das ist nicht mein ...
ERSTER HANDWERKSBURSCHE
Und meine Seele stinkt nach Branntewein.
Die Burschen, Soldaten und Mägde verlassen gemächlich den Tanzboden und sammeln sich in Gruppen. Eine Gruppe um die zwei betrunkenen Handwerksburschen.
ERSTER HANDWERKSBURSCHE
Meine Seele, meine unsterbliche Seele,
stinket nach Branntewein!
Sie stinket, und ich weiss nicht, warum?
Warum ist die Welt so traurig?
Selbst das Geld geht in Verwesung über!
ZWEITER HANDWERKSBURSCHE
Vergiss mein nicht! Bruder! Freundschaft!
umarmt ihn
Warum ist die Welt so schön!
Ich wollt', unsre Nasen wären zwei Bouteillen,
und wir könnten sie uns einander in den Hals giessen.
Die ganze Welt ist rosenrot!
Branntwein, das ist mein Leben!
ERSTER HANDWERKSBURSCHE
Meine Seele, meine unsterbliche Seele stinket.
Oh! Das ist traurig, traurig, traurig, trau-
schläft ein
Burschen, Soldaten und Mägde begeben sich wieder auf den Tanzboden und beginnen zu tanzen. Unter ihnen Marie und der Tambourmajor. Wozzeck tritt hastig auf, sieht Marie, die mit dem Tarnbourmajor vorbeitanzt.
WOZZECK
Er! Sie! Teufel!
MARIE
im Vorbeitanzen
Immerzu, immerzu!
WOZZECK
Immer zu, immer zu!«
sinkt auf eine Bank in der Nähe des Tanzbodens. Vor sich hin
Dreht Euch! Wälzt Euch!
Warum löscht Gott die Sonne nicht aus? ...
Alles wälzt sich in Unzucht übereinander:
Mann und Weib, Mensch und Vieh!
sieht wieder auf den Tanzboden hin
Weib! Weib! Das Weib ist heiss! ist heiss! heiss!
fährt heftig auf
Wie er an ihr herumgreift! An ihrem Leib!
Und sie lacht dazu!
MARIE, TAMBOURMAJOR
Immer zu! Immer zu!
WOZZECK
gerät in immer grössere Aufregung
Verdammt!
kann schliesslich nicht mehr an sich halten und will auf den Tanzboden stürzen
Ich ...
unterlässt es aber, da der Tanz beendet ist.
Er setzt sich wieder.
BURSCHEN, SOLDATEN
Ein Jäger aus der Pfalz
Ritt einst durch einen grünen Wald!
Halli, Hallo, Halli, Hallo!
Ja lustig ist die Jägerei,
Allhie auf grüner
Haid! Halli, Hallo! Halli, Hallo!
ANDRES
die Gitarre ergreifend, spielt sich als Dirigent des Chores auf und gibt ein Ritardando,
so dass er in den verklingenden Akkord des Chores einsetzen kann, leiernd
O Tochter, liebe Tochter,
Was hast Du gedenkt,
Dass Du Dich an die Kutscher
Und die Fuhrknecht hast gehängt?
Hallo!
BURSCHEN,SOLDATEN
Ja lustig ist die Jägerei,
Allhie auf grüner Haid!
Halli, Hallo! Halli, Hallo!
ANDRES
Hallo!
gibt die Gitarre dem Spieler von der Wirtshausmusik zurück und wendet sich zum Wozzeck
WOZZECK
Wieviel Uhr?
ANDRES
Elf Uhr!
WOZZECK
So? Ich meint', es müsst später sein!
Die Zeit wird Einem lang bei der Kurzweil ...
ANDRES
Was sitzest Du da vor der Tür?
WOZZECK
Ich sitz' gut da.
Es sind manche Leut' nah an der Tür und wissen's nicht, bis man sie zur Tür hinausträgt, die Füss' voran!
ANDRES
Du sitzest hart.
WOZZECK
Gut sitz' ich, und im kühlen Grab, da lieg' ich dann noch besser ...
ANDRES
Bist besoffen?
WOZZECK
Nein, leider, bring's nit z'sam,
Andres, gelangweilt und mit den Gedanken schon mehr beim Tanz, wendet sich pfeifend von Wozzeck ab. Der erste Handwerksbursche, der inzwischen aufgewacht ist, steigt auf einen Tisch und beginnt, von der Wirtshausmusik auf der Bühne melodramatisch begleitet, zu predigen.
ERSTER HANDWERKSBURSCHE
Jedoch, wenn ein Wanderer, der gelehnt steht an dem Strom der Zeit, oder aber sich die göttliche Weisheit vergegenwärtigt und fraget: Warum ist der Mensch?
mit Pathos
Aber wahrlich, geliebte Zuhörer, ich sage Euch:
verzückt
Es ist gut so!
Denn von was hätten der Landmann, der Fassbinder, der Schneider, der Arzt leben sollen, wenn Gott den Menschen nicht geschaffen hätte?
Von was hätte der Schneider leben sollen, wenn Er nicht dem Menschen die Empfindung der Schamhaftigkeit eingepflanzt hätte?
Von was der Soldat und der Wirt, wenn Er ihn nicht mit dem Bedürfnis des Totschiessens und der Feuchtigkeit ausgerüstet hätte?
Darum, Geliebteste, zweifelt nicht; denn es ist Alles lieblich und fein ...
Aber alles Irdische ist eitel;
selbst das Geld geht in Verwesung über ...
Und meine Seele stinkt nach Branntewein.
Allgemeines Gejohle! Der Redner wird umringt und von einem Teil der Burschen abgeführt. Die Übrigen begeben sich singend teils zum Tanzboden, teils zu den Tischen im Hintergrund.
BURSCHEN, SOLDATEN
Ja lustig ist die Jägerei,
ANDRES
O Tochter, liebe Tochter!
Der Narr taucht plötzlich auf und nähert sich Wozzeck, der, teilnahmslos an den Vorgängen, auf der Bank vorn gesessen hat. Der Narr drängt sich an Wozzeck heran. Die Instrumentalisten der Wirtshausmusik beginnen ihre Instrumente zu stimmen.
DER NARR
Lustig, lustig ...
Wozzeck beachtet den Narren anfangs nicht.
DER NARR
... aber es riecht …
WOZZECK
Narr, was willst Du?
DAR NARR
Ich riech, ich riech Blut!
WOZZECK
Blut? ... Blut, Blut!
Die Burschen, Mägde und Soldaten, unter ihnen Marie und der Tambourrnajor, beginnen wieder zu tanzen.
WOZZECK
Mir wird rot vor den Augen.
Mir ist, als wälzten sie sich alle übereinander ...
Verwandlung - Orchester-Nachspiel
FÜNFTE SZENE
Wachstube in der Kaserne. Nachts. Wortloster Chor der schlafenden Soldaten, anfangs bei geschlossenem Vorhang. Andres liegt mit Wozzeck auf einer Pritsche und schläft.
WOZZECK
stöhnt im Schlaf
Oh! oh!
auffahrend
Andres! Ich kann nicht schlafen.
Bei den Worten Wozzecks werden die schlafenden Soldaten unruhig, ohne aber aufzuwachen.
WOZZECK
Wenn ich die Augen zumach', dann seh' ich sie doch immer, und ich hör' die Geigen immerzu, immerzu.
Und dann spricht's aus der Wand heraus ...
Hörst Du nix, Andres?
Wie das geigt und springt?
ANDRES
Lass sie tanzen!
WOZZECK
Und dazwischen blitzt es immer vor den Augen wie ein Messer, wie ein breites Messer!
ANDRES
Schlaf, Narr!
WOZZECK
Mein Herr und Gott,
betet
»und führe uns nicht in Versuchung, Amen!«
Wortloser Gesang der schlafenden Soldaten
TAMBOURMAJOR
poltert, stark angeheitert, herein
Ich bin ein Mann!
Ich hab' ein Weibsbild,
ich sag' Ihm, ein Weibsbild!
Zur Zucht von Tarnbourmajors!
Ein Busen und Schenkel! und alles fest.
Die Augen wie glühende Kohlen.
Kurzum ein Weibsbild,
ich sag' Ihm ...
ANDRES
He! Wer ist es denn?
TAMBOURMAJOR
Frag' Er den Wozzeck da!
zieht eine Schnapsflasche aus der Tasche, trinkt daraus und hält sie dem Wozzeck hin
Da, Kerl, sauf'!
Ich wollt', die Welt wär Schnaps, Schnaps,
der Mann muss saufen!
trinkt wieder
Sauf', Kerl, sauf'!
Wozzeck blickt weg und pfeift.
TAMBOURMAJOR
schreiend
Kerl, soll ich Dir die Zung' aus dem Hals zieh'n und sie Dir um den Leib wickeln?
Sie ringen miteinander. Wozzeck unterliegt. Der Tambourmajor würgt den am Boden liegenden Wozzeck
Soll ich Dir noch so viel Atem lassen, als ein Altweiberfurz?
über Wozzeck gebeugt
Soll ich ...
Wozzeck sinkt erschöpft um. Der Tambourmajor lässt von Wozzeck ab, richtet sich auf und zieht die Schnapsflasche aus der Tasche
Jetzt soll der Kerl pfeifen!
trinkt wieder
Dunkelblau soll er sich pfeifen!
pfeift dieselbe Melodie wie früher Wozzeck, triumphierend
Was bin ich für ein Mann!
wendet sich zum Fortgehen und poltert zur Tür hinaus. Wozzeck hat sich indessen langsam erhoben und auf seine Pritsche gesetzt.
EIN SOLDAT
auf Wozzeck deutend
Der hat sein Fett!
legt sich um und schläft ein
ANDRES
Er blut' ...
legt sich um und schläft ein
WOZZECK
Einer nach dem Andern!
Wozzeck bleibt sitzen und starrt vor sich hin. Die anderen Soldaten, die sich währened des Ringkampfes etwas aufgerichtet hatten, haben sich nach dem Abgang des Tambourmajors -einer nach dem andern -niedergelegt und schlafen nunmehr alle wieder.