Beide setzen sich zu Tisch.
LULU
Was ich immer am höchsten an Dir schätzte, ist Deine Charakterfestigkeit.
Du bist immer so vollkommen sicher, wenn Du auch fürchten musstest, Dich mit Deinem Vater zu überwerfen.
Du bist trotzdem immer wie ein Bruder für mich eingetreten.
ALWA
Es ist nun einmal mein Los,
bei den leichtsinnigsten Gedanken immer das allerbeste zu erzielen.
LULU
Du bist der einzige Mann auf dieser Welt, der mich beschützt hat, ohne mich vor mir selbst zu erniedrigen!
ALWA
Hältst Du das für so leicht...?
DR. SCHÖN
erscheint auf der Galerie, in der er vorsichtig den Vorhang teilt; über die Bühne wegsprechend
Mein eigener Sohn?
Verbirgt sich
ALWA
da Lulu schweigt
Mit Deinen Gottesgaben macht man seine Umgebung zu Verbrechern, ohne sich's träumen zu lassen. -
Ich bin auch nur Fleisch und Blut. Und wenn wir nicht wie Geschwister nebeneinander aufgewachsen wären.
LULU
Deshalb gebe ich mich auch nur Dir allein ganz ohne Rückhalt; denn bei Dir hab' ich nichts zu fürchten.
ALWA
Ich versichere Dir, es gibt Augenblicke, wo man gewärtig ist, sein ganzes Innere einstürzen zu sehen. -
Aber sprechen wir nicht davon...!
DER KAMMERDIENER
kommt durch die Mitte, wechselt die Teller etc.
ALWA
zum Diener
Sind Sie krank?
LULU
zu Alwa
Lass ihn doch!
ALWA
Er zittert wie im Fieber.
DER KAMMERDIENER
kann sich kaum beherrschen
Gnädige Frau...
DR. SCHÖN
wird sichtbar, wie er die Vorgänge im Saal beobachtet
DER KAMMERDIENER
wie früher
Herr Doktor...
DR. SCHÖN
über die Bühne wegsprecbend
Der also auch!
DER KAMMERDIENER
mit dem Tablett langsam abgehend
DR. SCHÖN
zieht sich wieder etwas zurück
LULU
Was meintest Du früher mit den "Augenblicken, wo man gewärtig ist, sein ganzes Innere einstürzen zu sehen"?
ALWA
Ich wollte nicht davon sprechen.
LULU
Ich hab' Dir wehgetan. Auch ich will nicht mehr davon anfangen.
ALWA
Versprichst Du mir das für immer?
LULU
Meine Hand darauf!
Reicht ihm ihre Hand über den Tisch.
ALWA
ergreift ihre Hand, presst sie in der seinigen, drückt sie lange und innig an seine Lippen.
LULU
Was tust Du?!!! ......
RODRIGO
steckt rechts den Kopf aus den Gardinen
LULU
wirft ihm über Alwa hinweg einen wütenden Blick zu
RODRIGO
zieht sich zurück
DR. SCHÖN
auf der Galerie, über die Bühne wegsprechend
Da ist noch einer!
ALWA
sich aufrichtend, ohne ihre Hand loszulassen
Eine Seele, die sich im Jenseits den Schlaf aus den Augen reibt.., O, diese Hand...
LULU
Was findest Du daran
ALWA
Einen Arm
LULU
Was findest Du daran
ALWA
Einen Körper...
LULU
unschuldig
Was findest Du daran...
ALWA
erregt
Mignon!
Springt auf
LULU
Sieh mich nicht so an - um Gottes Willen!
ALWA
vor ihr kniend
Richte mich zugrunde! Mach' ein Ende mit mir...
LULU
Liebst Du mich denn?
ALWA
Liebst Du mich Mignon?
LULU
Ich weiss es nicht
ALWA
Mignon, ich liebe Dich!
Birgt seinen Kopf in ihrem Schoss.
LULU
beide Hände in seinen Locken
Ich habe Deine Mutter vergiftet
RODRIGO
steckt rechts den Kopf aus den Gardinen, sieht Schön auf der Galerie und macht ihn durch Zeichen auf Lulu und AIwa aufmerksam
DR. SCHÖN
richtet seinen Revolver gegen Rodrigo
RODRIGO
bedeutet ihn, den Revolver auf Alwa zu richten
DR. SCHÖN
spannt den Revolver und zielt auf Rodrigo
RODRIGO
fährt hinter die Gardinen zurück
LULU
sieht Rodrigo zurückfahren, sieht Schön auf der Galerie, erhebt sich
Sein Vater!
DR. SCHÖN
senkt den Revolver und kommt die Treppe herunter. Nähert sich - eine Zeitung in der Hand - Alwa, den er bei der Schulter nimmt
In Paris ist Revolution ausgebrochen.
ALWA
der bis dahin noch immer regungslos auf den Knien war, erhebt sich wie schlaftrunken
In Paris... Lass mich nach Paris
DR. SCHÖN
entfaltet das Zeitungsblatt
In der Redaktion weiss keiner, was er schreiben soll...
und geleitet Alwa durch die Mitte hinaus
Beide ab
RODRIGO
stürzt rechts aus den Gardinen, will die Treppe hinan
LULU
vertritt ihm den Weg
Sie können hier nicht hinaus!
RODRIGO
Lassen Sie mich durch!
LULU
Sie rennen ihm in die Arme.
RODRIGO
Er jagt mir eine Kugel durch den Kopf.
LULU
Er kommt.
RODRIGO
zurücktaumelnd
Himmel, Tod und Wolkenbruch!
Verbirgt sich hinter der Portière.
DR. SCHÖN
durch die Mitte, verschliesst die Tür, geht, den Revolver in der Hand, auf das Fenster vorn zu, schlägt die Gardine in die Höhe
Wo ist denn der hin?
LULU
auf der untersten Treppenstufe
Hinaus.
DR. SCHÖN
Über den Balkon hinunter?
LULU
Er ist Akrobat.
DR. SCHÖN
sich mit einer wegwerfenden Geste zu Lulu wendend
Du Kreatur, die mich durch den Strassenkot zum Martertode schleift!
Du Würgengel! Du unabwendbares Verhängnis!
Du Freude meines Alters!
Du Henkerstrick!
LULU
nach vorne kommend
Wie gefällt Dir mein neues Kleid?
DR. SCHÖN
Weg mit Dir, sonst schlägt's mir morgen über den Kopf - und mein Sohn schwimmt in seinem Blute!
Mit plötzlichem Entschluss, ihr seinen Revolver aufdrängend
Ich muss mich retten. Begreifst Du mich? Du sollst es Dir selbst applizieren!
LULU
hat sich, da die Kräfte sie zu verlassen drohen, auf den Diwan niedergelassen; den Revolver hin- und herdrehend
Das geht ja nicht los.
DR. SCHÖN
Soll ich Dir die Hand führen?
LULU
den Revolver, wie im Scherz, gegen ihn richtend
Ist er denn geladen?
DR. SCHÖN
Keinen blinden Lärm!
LULU
hebt den Revolver und knallt einen Schuss gegen die Decke
RODRIGO
springt aus der Portière, die Treppe hinauf, über die Galerie ab
DR. SCHÖN
Was war das...?
LULU
harmlos
Nichts. - Du leidest an Verfolgungswahn!
DR. SCHÖN
ihr den Revolver entreissend
Hast Du noch mehr Männer versteckt?
suchend im Zimmer herumrasend
Ist sonst noch ein Mann bei Dir auf Besuch?
Schlägt die Fenstergardinen in die Höhe, wirft den Kaminschirm um, packt - nach einem sprachlosen Moment - die Geschwitz am Kragen und schleppt sie nach vorn
Kommen Sie durch den Rauchfang herunter?
GRÄFIN GESCHWITZ
in Todesangst zu Lulu
Retten Sie mich vor ihm!
DR. SCHÖN
sie schüttelnd
Oder sind Sie auch - Akrobat?
GRÄFIN GESCHWITZ
wimmernd
Sie tun mir weh...
DR. SCHÖN
Jetzt müssen Sie schon zum Diner bleiben.
Schleppt sie nach links ins Nebenzimmer und verschliesst die Tür hinter Ihr; - setzt sich neben Lulu und drängt ihr den Revolver auf.
Es ist noch genug für Dich drin: Komm zu Ende! -
Ich kann meinem Diener nicht helfen, meine Stirn zu verzieren. -
ihr wieder den Revolver aufdrängend
Komm zu Ende!
LULU
Du kannst Dich ja scheiden lassen.
Nimmt den Revolver
DR. SCHÖN
Das wär' noch übrig. Damit morgen ein Nächster seinen Zeitvertreib finde,
wo ich von Abgrund zu Abgrund geschaudert, den Selbstmord im Nacken und Dich vor mir!
Etwas ruhiger
Ich mich scheiden lassen! -
Lässt man sich scheiden,
wenn die Menschen ineinander hineingewachsen und der halbe Mensch mitgeht?
Wieder in Wut geratend
Siehst Du Dein Bett, mit den Schlachtopfern darauf?
Nach dem Revolver langend
Gib her!
LULU
versucht sich ihm zu entziehen
Erbarmen...
DR. SCHÖN
wie früher
Ich will Dir die Mühe abnehmen.
Versucht nochmals ihr den Revolver zu entreissen.
LULU
reisst sich von ihm los, den Revolver niederhaltend, in entschiedenem, selbstbewusstem Ton
Wenn sich die Menschen um meinetwillen umgebracht haben, so setzt das meinen Wert nicht herab.
Du hast so gut gewusst, weswegen Du mich zur Frau nahmst,
wie ich gewusst habe, weswegen ich Dich zum Mann nahm.
Du hattest Deine besten Freunde mit mir betrogen,
Du konntest nicht gut auch noch Dich selber mit mir betrügen.
Wenn Du mir Deinen Lebensabend zum Opfer bringst, so hast Du meine ganze Jugend dafür gehabt. -
Ich habe nie in der Welt etwas anderes scheinen wollen, als wofür man mich genommen hat.
Und man hat mich nie in der Welt für etwas anderes genommen als was ich bin.
DR. SCHÖN
auf sie eindringend
Nieder, Mörderin! In die Knie!
Drängt sie bis vor die Treppe, die Hand erhebend
Nieder...
LULU
sinkt in die Knie
DR. SCHÖN
...und wage nicht wieder aufzusteh'n!
Den Lauf des in Lulus Hand befindlichen Revolvers auf sie richtend
Bete zu Gott, dass er Dir die Kraft gibt!
DER GYMNASIAST
mit Gepolter unter dem Tisch aufspringend, den Sessel beiseite stossend
DR. SCHÖN
sich rasch gegen den Studenten wendend, Lulu den Rücken kehrend
LULU
feuert fünf Schüsse gegen Schön und hört nicht auf, den Revolver abzudrücken
DR. SCHÖN
vornüberstürzend, vom Gymnasiasten aufgefangen und in einen Sessel niedergelassen
Und - da - ist - noch - einer!
LULU
auf Schön zustürzend
Allbarmherziger...
DR. SCHÖN
Aus meinen Augen! - Alwa!
LULU
auf den Knien
Der Einzige, den ich geliebt!
DR. SCHÖN
Mörderin! - - Alwa! Alwa!
ALWA
kommt über die Galerie die Treppe eiligst herunter
DR. SCHÖN
Wasser!
LULU
Wasser! Er verdurstet.
Wendet sich zum Tisch, wo sie ein Glas mit Champagner füllt
ALWA
bei Schön
Mein Vater! ... Mein Vater!
LULU
Ich habe ihn erschossen... Ich habe ihn erschossen.
Bringt das Glas...
DER GYMNASIAST
Sie ist unschuldig... Sie ist unschuldig... Sie ist unschuldig.
DR. SCHÖN
zu Alwa
Du bist es... Es ist missglückt
ALWA
will ihn aufheben
Du musst ins Bett...
DR. SCHÖN
Fass' mich nicht so an! ... Ich verdorre...
LULU
kommt mit dem Champagnerkelch
DR. SCHÖN
Du - bleibst Dir gleich.
Nachdem er - mit einem letzten Blick auf Lulu und ihr Porträt - getrunken, zu Alwa
Lass sie nicht entkommen: Du bist der Nächste …
ALWA
zum Gymnasiasten
Helfen Sie mir, ihn aufs Bett zu bringen.
Richtet Schön mit Hilfe des Gymnasiasten auf
Ins Schlafzimmer...
nach links deutend
DR. SCHÖN
Nein, Nein! ... Nein! ... Nein!
ALWA und der GYMNASIAST
führen Schön zur Tür links
DR. SCHÖN
stöhnend
O Gott, o Gott, o Gott...
ALWA
findet die Tür verschlossen, dreht den Schlüssel und öffnet
GRÄFIN GESCHWITZ
tritt heraus
DR. SCHÖN
sich bei ihrem Anblick steif emporrichtend
Der Teufel -
in sich zusammensinkend
DER GYMNASIAST
für sich
Der Teufel
LULU
sich zu ihm niederneigend, mit der Hand über seine Stirn streichend
Er hat es überstanden. -
Richtet sich - Schön nochmals anblickend - auf und eilt die Treppe hinan
ALWA
ihr den Weg versperrend
Halt! Nicht von der Stelle!
DER GYMNASIAST
Sie ist unschuldig.
GRÄFIN GESCHWITZ
zu Lulu
Ich meinte, Du - wärest es...
ALWA
Nicht von der Stelle!
LULU
Du kannst mich nicht dem Gericht ausliefern! Alwa, verlang' was Du willst! -
Lass mich nicht der Gerechtigkeit in die Hände fallen! Es ist schade um mich!
Ich bin noch jung. Ich will Dir treu sein mein Leben lang. Ich will nur Dir allein gehören.
Sieh mich an, Alwa! Mensch, sieh mich an! Sieh mich doch an!
Es läutet auf dem Korridor
ALWA und GRÄFIN GESCHWITZ
Die Polizei...
Es wird von aussen an die Tür gepoltert
LULU
sich vor Alwa niederwerfend
Alwa!
Umklammert seine Knie
ALWA
sich von ihr losreissend - geht zur Tür, um zu öffnen
DER GYMNASIAST
Ich werd' aus der Schule gejagt.
Wie die Polizei eindringt, fällt der Vorhang rasch
Zu der nun folgenden Verwandlungsmusik werden in einem stummen Film die Schicksale Lulus in den nächsten Jahren andeutungsweise gezeigt, wobei das filmische Geschehen, entsprechend dem symmetrischen Verlauf der Musik auch quasi symmetrisch (also vorwärtsgehend und rückläufig) zu verteilen ist, zu welchem Zweck die einander entsprechenden Geschehnisse und Begleiterscheinungen möglichst gegeneinander anzupassen sind.
Dies ergibt dann folgende Bilderreihe:
Verhaftung
Die drei bei der Verhaftung Beteiligten
Lulu in Ketten
Untersuchungshaft
in nervöser Erwartung
Schwindende Hoffnung
Prozess
Die Schuld
Richter und Geschworene
Die drei Zeugen der Tat
Verurteilung
Überführung mit dem Gefangenenauto
Kerker
Die Kerkertür schliesst sich
Anfängliche Resignation
Lulus Bild: als Schatten an der Kerkermauer
Am Weg zur endgültigen Befreiung
Die drei an der Befreiung Beteiligten
Lulu auf freiem Fuss (als Gräfin Geschwitz verkleidet)
In der Isolierbaracke
In nervöser Erwartung
Steigende Hoffnung
Konsilium
Die Krankheit
Ärzte und Studenten
Die drei Helfer für die Befreiungsaktion
Überführung mittels Krankentransport aus dem Kerker
Die Kerkertür geht auf
Erwachender Lebensmut
Lulus Bild: als Spiegelbild in einer Schaufel
Ein Jahr Haft
Ausser den oben angeführten Kongruenzen der hauptsächlichsten Geschehnisse (wie etwa Prozess, Konsilium, Verhaftung, Befreiung) wären auch solche kleiner und kleinster Art zu zeigen, wie etwa: Revolver - Stethoskop, Patronen - Phiolen, Jus - Medizin, Paragraphenzeichen - Cholerabazillen, Ketten - Bandagen, Gefängniskleider -Spitalskittel. Gefängniskorridore - Spitalgänge etc. Ebenso personelle Entsprechungen, wie etwa: Richter und Geschworene - Ärztekollegium und Studenten, Polizei - Pfleger etc. etc.