EINZIGER AKT
ERSTE SZENE
GARTENSAAL EINES ROKOKOSCHLOSSES
Der vordere Teil des Saales weitet sich rechts und links zu halbrunden geräumigen Nischen, deren Wandarchitektur teilweise mit Spiegeln verkleidet ist. Einige zwanglos gestellte bequeme Sitzmöbel. Kerzenbeleuchtung an den Wänden. Zur Mitte, in den schmäleren Teil des Saales, führen zwei Stufen hinauf. In der linken Seitenwand ist die Tür zum Speisesaal. In der rechten Seitenwand führt eine Tapetentür auf die Bühne des Schlosstheaters. An derselben Wand weiter vorne stehen eine Harfe, ein Notenpult und, mehr zur Mitte des Raumes gerückt, ein Clavecin (Tafelklavier). Im Hintergrund hohe Fenstertüren, die auf eine Terrasse führen, mit Ausblick auf den Park. In den rückwärtigen Ecken wird der Saal durch Glastüren begrenzt. Dahinter erstrecken sich zu beiden Seiten galerieartige Räume mit Fenstern zur Terrasse. Links gelangt man zum Haupteingang des Schlosses, rechts in die Orangerie
Es ist früh am Nachmittag. Beim Aufgehen des Vorhangs und während des Anfangs der ersten Szene erklingt aus dem Salon links das Andante eines Streich-Sextetts. Es ist eine Komposition des Musikers Flamand, die soeben der Gräfin vorgespielt wird. Die Tür zum Salon ist geöffnet. Dichter und Musiker stehen nahe bei ihr. Sie hören aufmerksam zu und beobachten die Gräfin. Etwas mehr zur Mitte sitzt der Theaterdirektor in einem Armlehnstuhl. Er schlummert
FLAMAND
Bezaubernd ist sie heute wieder!
OLIVIER
Auch du?
FLAMAND
Mit geschlossenen Augen hört sie ergriffen -
OLIVIER
auf den schlafenden Direktor deutend
Auch dieser?
FLAMAND
Schweig, Spötter!
OLIVIER
Ihren strahlenden offnen - hört sie meine Verse geb ich entschieden den Vorzug.
FLAMAND
Auch du?
OLIVIER
Ich leugne es nicht.
FLAMAND
Da sind wir also -
OLIVIER
Verliebte Feinde -
FLAMAND
Freundliche Gegner
OLIVIER
Wort oder Ton?
FLAMAND
Sie wird es entscheiden!
OLIVIER
immer leise, aber bestimmt
Prima le parole - dopo la musica!
FLAMAND
heftig
Prima la musia- e - dopo le parole!
OLIVIER
Ton und Wort…
FLAMAND
… sind Bruder und Schwester.
OLIVIER
Ein gewagter Vergleich!
Das Sextett hinter der Szene schliesst. In diesem Augenblick erwacht der Theaterdirektor
DIREKTOR
Bei sanfter Musik schläft sich's am besten.
OLIVIER
auf den Direktor deutend
In solchen Händen liegt unser Schicksal!
DIREKTOR
Was wollt ihr? Ohne mich sind eure Werke - totes Papier!
FLAMAND
Mit dir sind ihre Autoren - gefesselte Sklaven!
DIREKTOR
Meine schönen Dekors?
FLAMAND
Öde Kulissen!
DIREKTOR
Mein Künstler malt für des Königs Oper!
FLAMAND
Da kann ich den Ritter Gluck nur bedauern.
DIREKTOR
Der unsere klassische »Iphigenie« mit seiner gelehrten Musik überschüttet.
FLAMAND
Den prophetischen Nachfolger des grossen Corneille!
DIREKTOR
Keine Melodie behält man, kein Wort versteht man im Tumult des Orchesters!
FLAMAND
Seine Töne ergreifen -
OLIVIER
Dramatisch sein Atem -
DIREKTOR
Endlose Proben - monatelang. Und dann folgt der Durchfall des »Drame héroique«.
FLAMAND
Das Publikum teilt sich in feindliche Lager -
OLIVIER
Erregung der Geister -
DIREKTOR
spöttisch
Probleme - Reformen! Hört mir doch auf!
FLAMAND
Überfüllt das Theater -
OLIVIER
Durch Wochen nur ausverkaufte Häuser
DIREKTOR
Alles nur Mode! Die grosse Gesellschaft, sie sitzt in den Logen, gähnt gelangweilt und schwatzt. Sie beachtet allein die Pracht der Dekors und wartet voll Ungeduld auf die hohen Töne des beliebten Tenors. Es bleibt alles beim alten, wie bei den Opern Lullys und Rameaus. Nichts übertrifft die italienische Oper!
OLIVIER
spöttisch
Ihren schlechten Text?
DIREKTOR
Ihre gute Musik! Man lauscht voll Rührung dem Zauber der Arie, bewundert voll Staunen die Kunst der Sänger. Die Opera buffa ganz im besonderen, - Maestro Piccinni versteht seine Kunst - sie wird von arm und reich verstanden, sie unterhält und ergötzt auch den einfachen Mann.
FLAMAND
Höheres gilt es als Zeitvertreib!
OLIVIER
So wenig Verständnis -
FLAMAND
Ein Fachmann wie du!
DIREKTOR
Gestern traf ich den alten Goldoni. Er sass verstimmt im Café de Foi. »Eure Opern sind schrecklich«, rief er mir zu, »für die Augen ein Paradies, für die Ohren eine Hölle! Vergebens wartet man auf die Arien, sie klingen alle wie Rezitative! «
FLAMAND
Was soll uns das Urteil des Venezianers?
DIREKTOR
Er schreibt für sein Volk.
FLAMAND
ironisch
»Gondola - Gondola!«
OLIVIER
Er lässt Gewürzkrämer und Seifensieder auftreten.
DIREKTOR
Wie steht es bei uns? In fernste Druidenvergangenheit tauchen unsere Dichter, zu Türken und Persern, den Propheten der Bibel schweift ihre Phantasie. Wen soll das bewegen? Das Volk bleibt kalt und wendet sich ab. Es will auf der Bühne leibhaftige Menschen von Fleisch und Blut und nicht Phantome!
FLAMAND
geringschätzig
Du spielst für die Menge.
OLIVIER
Deine Truppe bevorzugt leichtfertige Schwänke.
DIREKTOR
Wir spielen nur Gutes! Ein geistreiches heiteres Vaudeville oder eine Opera buffa voll sprudelnder Laune. In der Komödie weibliche Grazie …
OLIVIER
… zum Entzücken der älteren Kavaliere!
DIREKTOR
Eine schöne Heroine hast auch du nicht verschmäht!
FLAMAND
Schön ist Clairon, das weiss er am besten!
OLIVIER
Vorbei, vorbei …
DIREKTOR
Eure zarte Beziehung scheint stark beschädigt.
OLIVIER
Doch noch immer bewundere ich ihr reiches Talent.
DIREKTOR
Bald wird der Graf nicht nur dieses bewundern. Zur heutigen Probe wird sie erwartet.
FLAMAND
Er wird mit ihr spielen?
DIREKTOR
Er will es versuchen,
zum Dichter ironisch
getragen von der Gewalt deiner Verse. Doch still! Die Gräfin erhebt sich,
zum Musiker
noch sichtlich bewegt von deiner Musik. War sie wirklich so schön? Schade, schade, ich habe sie verschlafen.
FLAMAND
in den Anblick der Gräfin versunken
Verträumt ihr Auge …
OLIVIER
ebenso
Ein entzückendes Lächeln umspielt ihre Lippen-
DIREKTOR
leise
Eine bedeutende Frau -
OLIVIER
Voll Geist und Charme -
DIREKTOR
leise
und Witwe -
mit Betonung
Und Witwe! Sie kommen! Schnell dort in den Saal, die Bühne zu ordnen und alles zur Probe vorzubereiten. Jetzt beginnt meine Arbeit. Regie versteh' ich, das ist mein Metier. Regie die Lösung, Regie das Geheimnis! Sprechende Geste, mimischer Ausdruck - erstes Gesetz!
Alle drei ab in den Theatersaal
ZWEITE SZENE
Graf und Gräfin kommen aus dem Salon
GRÄFIN
Der Strom der Töne trug mich fort - fern in eine beglückende Weite!
GRAF
Das Spiel der Geigen umgaukelt das Ohr, mein Geist bleibt kalt.
GRÄFIN
Der gefürchtete Kritiker erhebt seine Stimme?
GRAF
Du liebst Musik. - Wie gefällt dir Flamand?
GRÄFIN
die Frage überhörend
Den heiteren Couperin lieb ich, du weisst es, doch zu flüchtig verrinnt mir sein leichtfertig Spiel. Rameau ist genial, - oft sing ich für mich: »Fra le pupille di vaghe belle … « - doch unmanierlich und roh war sein Wesen. Wenn ich dran denke, missfällt er mir gründlich. Mein Genuss ist getrübt.
GRAF
Du musst den Menschen vom Werke trennen.
GRÄFIN
Wohl möchte ich -
GRAF
Doch du kannst nicht, ich sah es heute.
GRÄFIN
Mit geschlossnen Augen lauscht' ich den Tönen -
GRAF
Doch unter den Wimpern ein Blick auf den Autor?
GRÄFIN
Hier seh' ich vollkommne Harmonie. Gerne gesteh' ich -
GRAF
Wo Kunst und Natur in so hübschem Verein …
GRÄFIN
Lass mir die Freude der schönen Erregung. Von mir nie Empfundnes entfloss den Tönen. Dunkle Gefühle dringen empor, bleiben sie stumm auch dem ahnenden Herzen!
GRAF
Was Musik nicht vermag, wird der Dichter dir sagen: Oliviers Stück ist vortrefflich.
GRÄFIN
Ein so eifriges Lob, mein skeptischer Bruder?
Die, schöne Mittlerin, die du erwartest, ihr gilt dein Interesse, leugne es nicht!
GRAF
Wie oft hast du selbst Clairon bewundert. Vor ihr verstummt jede Kritik. Mit ihr zu spielen macht mich befangen, denn heute sind die Rollen vertauscht. Heut' ist's der Mäcen, der der Nachsicht bedarf.
GRÄFIN
Was dem Partner fehlt, wird der »Graf« wohl ersetzen, und des Dichters Wort trägt bequem dich ans Ziel!
GRAF
Spotte nicht, Schwester! Du wirst zwiefach umworben! Wort oder Ton - wem neigst du dich zu?
GRÄFIN
Nicht will ich denken, nur lauschend geniessen.
GRAF
Frau Gräfin, Frau Gräfin, wohin führt der Weg?
GRÄFIN
Der Eure, Herr Graf, führt zum Abenteuer!
GRAF
Heute ein gnädiger Blick für den einen - Morgen ein Lächeln der Huld für den andern.
GRÄFIN
Im Herzen ein Echo dem Lockruf des Geistes.
GRAF
Der Dichter wirbt stärker!
GRÄFIN
Sorg du für dich selbst.
GRAF
Nur Flücht'ges gefällt mir.
GRÄFIN
Wer kennt sein Schicksal?
GRAF
Neugierig bin ich, wie du entscheidest.
GRÄFIN
Wohl für keinen von beiden, denn hier zu wählen, hiesse verlieren.
GRAF
Leicht zu verlieren,
leicht zu gewinnen,
Schönheit des Lebens -
wahrer Gewinn!
GRÄFIN
Sorgend gewinnen,
liebend behalten,
Wahrheit des Lebens -
schönster Gewinn!
GRAF
Heiter entscheiden,
sorglos besitzen,
Glück des Augenblicks
Weisheit des Lebens!
GRÄFIN
Freudig erkennen,
innig gewähren,
seliger Augenblick -
Glück des Lebens!
DRITTE SZENE
Der Theaterdirektor, Flamand und Olivier treten wieder ein
DIREKTOR
Die Bühne ist fertig, wir können beginnen. Das Programm für die Geburtstagsfeier der gnädigen Gräfin ist entworfen. In edlem Wettstreit wollen wir uns überbieten: Da ist die berauschende Sinfonia unseres jungen Flamand.
GRAF
auf den Dichter deutend
Dann sein Drama, in dem ich die Rolle des Liebhabers spiele.
GRÄFIN
Als feuriger Schwärmer oder als Held?
DIREKTOR
Und schliesslich ein Opus aus meiner Werkstatt.
FLAMAND
Wahrscheinlich wieder ein dramatisiertes Proverbe mit eingelegten Arietten und Couplets!
DIREKTOR
Nein, nein, keineswegs! Eine grosse »azione teatrale« meiner gesamten Truppe. Ein Huldigungsfestspiel! Ich will nichts verraten über Inhalt und Titel …
OLIVIER
ironisch
Ein düstres Geheimnis!
DIREKTOR
Die erhabensten Bilder, das schönste Ballett! Auch Sänger der italienischen Oper werden Sie diesmal hören. Stimmen, Frau Gräfin, Sie werden staunen! Ihre perlenden Läufe, ihre hohen Triller! Des Tenors hohe Töne - ein strahlender Glanz!
FLAMAND
Musik nur als Vorwand!
DIREKTOR
So spricht nur der Neid. Der Erfolg entscheidet!
OLIVIER
Alberne Verse -
DIREKTOR
Wer hört auf die Worte, wo Töne siegen!
In diesem Augenblick fährt durch die Auffahrt des Parks ein Reisewagen vor, in dem die berühmte Schauspielerin Clairon ankommt
GRAF
durch die Glastüren in den Park blickend
Da ist sie! Ich eile, sie zu begrüssen.
VIERTE SZENE
OLIVIER
zum Direktor
Sie ist doch gekommen! Du hast es erreicht.
GRÄFIN
hinausblickend
Die berühmte Tragödin im Reise-Kostüm!
DIREKTOR
zu Olivier
Das Ergebnis meines impetuosen Drängens.
FLAMAND
Könnte sie auch singen, wäre sie unwiderstehlich!
OLIVIER
Wie soll ich dir danken!
Der Graf ist mit Clairon eingetreten und stellt sie der Gräfin vor
GRAF
Melpomenens Priesterin, die göttliche Clairon!
GRÄFIN
artig
Wie oft habe ich Euch auf der Bühne bewundert.
DIREKTOR
mit Pathos
Andromache, Phädra, Medea, Roxane!
CLAIRON
zum Direktor
Du erschwerst meinen Auftritt, mein lieber La Roche.
zur Gräfin
Ich fürchte, Frau Gräfin, Sie werden nach dieser Einführung von meinem Dialog enttäuscht sein.
GRÄFIN
sehr höflich
Sie unterschätzen den Reiz, aus Ihrem Mund Worte zu hören, die nicht an ein Versmass gebunden sind. Ihr natürlicher Vortrag wird auch im wirklichen Leben triumphieren.
CLAIRON
Wenn wir in unsrer Welt des Scheins der Wirklichkeit zu nahe kommen, so ist die Kunst in Gefahr, sich die Flügel zu verbrennen.
zum Dichter
Haben Sie Ihr Gedicht vollendet, Olivier? Meine Rolle bricht an der interessantesten Stelle ab. - Ist es nun eine Sache der Galanterie oder des Herzens, dass Sie uns die Liebesszene so lange verschweigen?
OLIVIER
mit einem Blick auf die Gräfin
Durchaus eine Sache der Inspiration, verehrte Clairon. Der heutige Morgen liess mir noch ein schönes Sonett zufliegen.
GRAF
Sein Stück ist fertig, hier das Manuskript.
CLAIRON
So machen Sie uns doch mit der jüngsten Eingebung unseres Dichters bekannt, lieber Graf, und geben Sie uns dabei gleich eine Probe Ihres rhetorischen Talentes.
GRAF
Aus Begeisterung für den Autor will ich Sie über die Grenzen dieses Talentes nicht länger im unklaren lassen!
Clairon und der Graf deklamieren aus dem Theaterstück des Dichters. Sie lesen aus ihren Rollen. Clairon beginnt
CLAIRON
Ihr geht.
Entliess Euch schon die Macht,
die Euch an meine Spur gebunden,
der Weg, der Euch herangebracht,
ist er so leicht zurückgefunden?
Dies Auge, das auf mir geruht
in glückerfülltem, stillen Feuer,
sprüht Blitze schnell vor Übermut
nach unruhvollem Abenteuer!
GRAF
Ich geh.
Doch da ich gehen muss,
den Feind im Streite zu erreichen,
Entbiet' ich Euch zum Abschiedsgruss
der ungeteilten Treue Zeichen:
der Seele Glut zum sichern Pfand,
ein liebend Herz zum Angebinde, -
und wahre Kopf mir nur und Hand,
dass schnell und stark ich überwinde.
CLAIRON
Doch bunte Welt, bewegt und gross,
entrückt Euch abgelebten Zeiten …
GRAF
O Göttin, nur in Euren Schoss
wird Kampf und Sieg mich heimgeleiten.
CLAIRON
Wie rasch nach andrem Ihr verlangt!
Begier ist Nahrung dem Vergessen.
Vor dem, wonach Ihr sehnend bangt,
verblasst, was liebend Ihr besessen.
GRAF
Welch Bangen, Sehnen, welch Begehren
Verglimmte nicht im Flammenschein,
den Ihr entfacht!
CLAIRON
Das sollt Ihr schwören,
und lasst des Schwurs mich Zeuge sein!
GRAF
Kein Andres, das mir so im Herzen loht,
Nein, Schöne, nichts auf dieser ganzen Erde,
Kein andres, das ich so wie dich begehrte,
Und käm' von Venus mir ein Angebot.
Dein Auge beut mir himmlisch-süsse Not,
Und wenn ein Aufschlag alle Qual vermehrte,
Ein andrer Wonne mir und Lust gewährte, -
Zwei Schläge sind dann Leben oder Tod.
Und trüg' ich's fünfmalhunderttausend Jahre,
Erhielte ausser dir, du Wunderbare,
Kein andres Wesen über mich Gewalt.
CLAIRON
den Grafen, der sehr in Feuer geraten ist, unterbrechend
Bravo, Bravo! Sie sind wirklich kein Laie. Ich bin fest entschlossen, zu Ihrem theatralischen Talent in nähere Beziehung zu treten.
Sie nimmt das Manuskript und überreicht es in feierlich-zeremonieller Weise dem Direktor
Hier nimm das Drama
und setz es in Szene!
Bestimm unsren Auftritt,
Prüf unsre Geste!
Geleit uns zur Probe
und sei unser Mentor!
DIREKTOR
auf ihren Ton eingehend, bläht sich auf
Der Theatersaal ist hell erleuchtet.
Folgt mir, ihr Freunde!
zum Dichter, der folgen will, mit Grabesstimme
Du bleibst!
Mein Zartgefühl verbietet mir, dem Autor zu erlauben, bei der szenischen Einrichtung seines Stückes zugegen zu sein. Harre und vertraue!
CLAIRON
Schon küsst ihn die Muse!
DIREKTOR
Ungehemmt und ohne Fessel sei das Walten meiner Phantasie!
CLAIRON
Mein lieber La Roche, Du bist ein Genie!
Direktor ab in den Theatersaal, Clairon folgt ihm am Arme des Grafen
GRÄFIN
dem Grafen nachblickend
Ein Philosoph schreitet seiner Bekehrung entgegen.
FLAMAND
Er deklamierte eindringlich und recht natürlich.
GRÄFIN
zum Dichter
Der Liebhaber in Eurem Theaterstück drückt seine Gefühle für die Angebetete wahrhaft erschöpfend aus.
OLIVIER
Der Vortrag des Grafen war eine Improvisation an eine falsche Adresse. Gestattet, dass ich den Missbrauch wende!
Er wendet sich zur Gräfin und rezitiert sein Sonett
Kein andres, das mir so im Herzen loht,
Nein, Schöne, nichts auf dieser ganzen Erde,
Kein andres, das ich so wie dich begehrte,
Und käm' von Venus mir ein Angebot.
GRÄFIN
Eine schnöde Methode, die angeredete Person nach Belieben zu vertauschen!
OLIVIER
fährt fort, ohne sich im Ausdruck unterbrechen zu lassen
Dein Auge beut mir himmlisch-süsse Not,
Und wenn ein Aufschlag alle Qual vermehrte,
Ein andrer Wonne mir und Lust gewährte, -
Zwei Schläge sind dann Leben oder Tod.
Der Musiker geht hier an das Clavecin und beginnt auf die folgenden Worte die Melodie eines Liedes zu improvisieren
Und trüg' ich's fünfmalhunderttausend Jahre,
Erhielte ausser dir, du Wunderbare,
Kein andres Wesen über mich Gewalt.
Durch neue Adern müsst' mein Blut ich giessen,
In meinen, voll von dir zum Überfliessen,
Fänd' neue Liebe weder Raum noch Halt.
GRÄFIN
Ein schönes Gedicht! Wie eine Feuergarbe schlägt es empor. Doch wie grausam geht Ihr mit ihm um! Ihr gebt es fremden Ohren preis und verlangt, dass ich Zutrauen zu ihm gewinne. Ach! Man sollte Liebesschwüre nicht öffentlich vortragen. Finden Sie nicht auch, Flamand?
FLAMAND
Seine Verse sind von vollendeter Schönheit.
Schon höre ich sie als Musik in mir.
Er eilt ab in den Salon links vorne
OLIVIER
dem Musiker nachrufend
Was tust du, was willst du?
FÜNFTE SZENE
GRÄFIN
Lassen Sie ihn gewähren. Wie Sie sehen, ist auch Musik eine Sache der Inspiration.
OLIVIER
will dem Musiker nacheilen
Mein Sonett, mein schönes Sonett!
GRÄFIN
Stören Sie ihn nicht! Was kann er Böses tun?
OLIVIER
Schrecklich, ich fürchte, er komponiert mich.
GRÄFIN
Ist das so schlimm? Wartet doch ab.
OLIVIER
Neue Entstellung! Er zerstört meine Verse.
GRÄFIN
Vielleicht schenkt er ihnen höheres Leben.
OLIVIER
Mein schönes Gedicht, mit Musik übergossen!
GRÄFIN
So voller Besorgnis um Eure Verse? Jetzt in dem Augenblick, wo wir allein? Habt Ihr mir nichts in Prosa zu sagen?
OLIVIER
Meine Prosa verstummt.
stürmisch auf sie eindringend
Ihr wisst, dass ich glühe -
GRÄFIN
Bedenklicher Zustand! Fasst mich nicht an! Ein wenig Geduld würd' ich herzlich begrüssen.
OLIVIER
Immer Geduld - niemals Erfüllung!
GRÄFIN
ruhig
Hoffnung ist süss, Gewährung vergänglich.
OLIVIER
So darf ich hoffen? Soll nicht fürchten?
GRÄFIN
Jegliches Feuer braucht stete Bewegung, soll es bestehen. Ein Brand ist die Liebe! Ohne Hoffen oder Fürchten erlischt ihr Leben.
OLIVIER
Ihr quält mich, Madeleine! Euer leuchtendes Auge macht mich zum Sklaven nur eines Gedankens: Mit all meinem Fühlen und all meinem Dichten Euer Herz zu erobern!
GRÄFIN
Auch er wirbt da drinnen - seht doch hin - am Schreibtisch … Die Feder fliegt!
OLIVIER
Der Töne Sprache wollt Ihr verstehen?
GRÄFIN
Dunkle Träume wecken sie - unaussprechlich - Ein Meer von Empfindung - beglückend schön!
OLIVIER
Wachen Geistes innre Klarheit - denkt Ihr wirklich davon gering?
GRÄFIN
Die Worte der Dichter schätze ich hoch -, doch sagen sie nicht alles, was tief verborgen.
OLIVIER
Ihr weicht mir aus, bekennt doch offen: eine schlanke Gestalt, ein glattes Gesicht wecken die Sinne und haben den Vorrang vor Geist und Witz!
GRÄFIN
Eine nüchterne Weisheit! Doch Ihr vergesst, dass hier männliche Anmut gepaart mit Talent.
OLIVIER
Ein entwaffnender Einwand. Habt doch Erbarmen!
GRÄFIN
Mit Euch? - Mit ihm? Mit zweien zugleich?
OLIVIER
So krönt den Sieger!
FLAMAND
mit einem Notenblatt in der Hand hereinstürzend, hat die letzten Worte gehört
Hier ist er!
setzt sich ans Clavecin
GRÄFIN
Wir hören …
SECHSTE SZENE
Flamand singt und spielt das soeben von ihm komponierte Sonett
SONETT
FLAMAND
Kein andres, das mir so im Herzen loht,
Nein, Schöne, nichts auf dieser ganzen Erde,
Kein andres, das ich so wie dich begehrte,
Und käm' von Venus mir ein Angebot.
Dein Auge beut mir himmlisch-süsse Not,
Und wenn ein Aufschlag alle Qual vermehrte,
Ein andrer Wonne mir und Lust gewährte
Zwei Schläge sind dann Leben oder Tod.
Und trüg' ich's fünfmalhunderttausend Jahre,
Erhielte ausser dir, du Wunderbare,
Kein andres Wesen über mich Gewalt.
Durch neue Adern müsst' mein Blut ich giessen,
In meinen, voll von dir zum Überfliessen,
Fänd' neue Liebe weder Raum noch Halt.
TERZETT
GRÄFIN
gleichzeitig
Des Dichters Worte, wie leuchten sie klar!
OLIVIER
Ich wusste es ja, er zerstört meine Verse.
GRÄFIN
Doch was er selbst nicht geahnt, der andere vollbringt's. Wo liegt der Ursprung?
OLIVIER
Das schöne Ebenmass ist dahin.
GRÄFIN
Haben ihm die Worte die Melodie vorgesungen? War diese schon harrend bereit, die Worte liebend zu umfangen? Trägt die Sprache schon Gesang in sich, oder lebt der Ton erst getragen von ihr? Eins ist im andern und will zum andern. Musik weckt Gefühle, die drängen zum Worte. Im Wort lebt ein Sehnen nach Klang und Musik.
OLIVIER
gleichzeitig
Vernichtet der Reim - die Sätze zerstückelt, willkürlich zerlegt in einzelne Silben, in kurz und lang ausgehaltene Töne! Sie nennen es »Phrase«, die Herren Musikanten! Wer achtet nun noch auf den Sinn des Gedichts? Die schmeichelnden Töne, sie triumphieren! Der Glückliche! Auf meiner Worte Stufen steigt er zu leichtem Sieg.
GRÄFIN
zum Dichter
Wie schön die Worte, kaum kenn' ich sie wieder! Wie innig ihr Ausdruck und stürmisch ihr Werben! Nun, Olivier, Sie schweigen - Sie denken?
ruhig
Sind Sie mit meiner Kritik nicht zufrieden?
OLIVIER
Ich überlege, ob das Sonett nun von ihm ist oder von mir. Ist es nun ihm eigen, oder noch mein?
GRÄFIN
Wenn Sie erlauben, gehört es jetzt mir! Als schönes Geschenk des heutigen Tages.
FLAMAND
enthusiastisch
Es ist für ewige Zeit nur für Sie!
Olivier erhebt sich unwillig
Deiner Verse Licht scheint mir heller zu strahlen!
OLIVIER
Du raubst meine Worte und schmeichelst dem Ohr!
GRÄFIN
In edler Melodie der schöne Gedanke - Ich denke, es gibt keinen besseren Bund!
zum Dichter
Wie immer Sie sich auch wehren, lieber Freund:
zu beiden
Unzertrennlich seid Ihr vereint in meinem Sonett!
DIREKTOR
tritt eilig ein
Verzeiht mir, Frau Gräfin, ich muss ihn entführen. Wir brauchen den Autor sogleich auf der Probe - sein Einverständnis zu einer Kürzung.
zum Dichter
Ein genialer Strich aus meiner Feder bringt deinem Stück verblüffende Wirkung!
OLIVIER
La Roche als Chirurg - nun wird's gefährlich!
DIREKTOR
im Abgehen
Das Kind deiner Muse ist wohlgebaut. Nur ein Arm ist zu lang.
OLIVIER
Ich kenn' deinen Vorschlag: Du schneidest ein Stück ab, und die Hand ist weg.
lachend ab mit dem Direktor
SIEBENTE SZENE
FLAMAND
allein mit der Gräfin
Verraten hab' ich meine Gefühle! Von Eurer Schönheit geblendet steh ich vor Euch und erwarte mein Urteil.
GRÄFIN
Ihr beide verwirrt mich, ich zweifle, ich schwanke…
FLAMAND
Entscheidet, entscheidet: Musik oder Dichtkunst? Flamand, Olivier - wem reicht Ihr den Preis?
GRÄFIN
Schon war ich im Bann Eurer holden Töne, sie siegten über das trockene Wort, da erwecket Ihr dieses zu klingendem Leben … So innig verbunden Eure Künste!
FLAMAND
Ihr selbst seid die Ursache dieser Verstrickung -
GRÄFIN
Alles verwirrt sich -, Worte klingen, Töne sprechen -
FLAMAND
… dass ich Euch liebe! Diese Liebe, plötzlich geboren an jenem Nachmittag, als Ihr eintratet in Eure Bibliothek -Ihr saht mich nicht… Ein Buch nahmt Ihr in Eure schönen Hände. Ich sass versteckt in einem Winkel, lautlos - hielt den Atem an und wagte nicht, mich zu regen. Seite um Seite sah ich Euch lesen … Dämm'rung brach herein - Verzaubert trank ich Euer Bild und schloss die Augen. - Musik rauschte in mir, unerlöst im Taumel meiner Empfindung. Als ich die Augen aufschlug, wart Ihr verschwunden. - Nur das Buch, in dem Ihr gelesen, lag noch an seinem Platz - aufgeschlagen, wie Ihr es verlassen. Ich nahm es auf und las im Zwielicht: »In der Liebe ist das Schweigen besser als reden. Es gibt eine Beredsamkeit des Schweigens, die durchdringender ist als Worte es sein können. « Pascal Lange blieb ich und spürte noch die Nähe Eurer Gedanken - da wurde es dunkel - ich war allein. - Seit jener Stunde bin ich ein anderer. Ich atme nur noch in Liebe zu Euch!
GRÄFIN
nach einer kleinen Pause
Und jenen Spruch, Ihr beherzigt ihn wenig. Warum nehmt Ihr zu Worten Eure Zuflucht? Ihr borgt von Eurem Freund, vertauscht die Rollen.
FLAMAND
Erklingen hörtet Ihr meine Lieben, doch die Töne, sie fanden den Weg nicht zu Eurem Herzen.
GRÄFIN
Sie erzählten beredsam von Eurem Empfinden.
FLAMAND
So tat ich recht, mein Geständnis zu wagen?
GRÄFIN
»Das Glück der Liebe, die man nicht zu gestehen wagt, hat Dornen, aber auch Süsse. « Pascal
FLAMAND
Ihr zitiert jenes Buch und weicht mir aus. Um Antwort bitt' ich, vernichtende oder beseligende Antwort! Gewährt mir ein Zeichen, ein Wort nur…
GRÄFIN
Nicht jetzt, Flamand, nicht hier!
FLAMAND
Wann?! Wo?!
GRÄFIN
Dort oben, wo Eure Liebe geboren -
FLAMAND
In der Bibliothek, noch heute!
GRÄFIN
Nein, nein, morgen -
FLAMAND
Morgen früh?
GRÄFIN
Morgen mittag um elf.
FLAMAND
Madeleine!
er drückt stürmisch einen Kuss auf ihren Arm und stürzt ab. Die Gräfin bleibt allein zurück, sie ist sichtlich bewegt. Sie blickt Flamand nach und setzt sich nachdenklich in einen Armlehnstuhl. Die Probe im Theatersaal nebenan geht weiter. Man hört Clairon deklamieren, den Grafen antworten, Zwischenrufe des Direktors. Der Souffleur wird angerufen. Er ist eingeschlafen. Heiterkeit. Alles mehr oder weniger undeutlich. - Durch das Gelächter im Theatersaal wird die Gräfin aus ihrer nachdenklichen Stimmung gerissen, sie erhebt sich und klingelt
GRÄFIN
zum eintretenden Haushofmeister
Wir werden die Schokolade hier im Salon einnehmen.
Haushofmeister ab