ZWEITES BILD
Im Walde
Tiefer Wald. Im Hintergrunde der "Ilsenstein", von dichtem Tannengehölz umgeben. Rechts eine mächtige Tanne, arunter sitzt Gretel auf einer mit Moos bedeckten Wurzel und windet einen Kranz von Hagebutten, neben ihr liegt ein Blumenstrauss. Links abseits im Gebüsch Hänsel, nach Erdbeeren suchend. Abendrot.
GRETEL
(leise vor sich hinsummend)
Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm,
es hat von lauter Purpur ein Mäntlein um.
Sagt, wer mag das Männlein sein,
das da steht im Wald allein
mit dem purpurroten Mäntelein?
Das Männlein steht im Walde auf einem Bein
und hat auf seinem Kopfe schwarz Käpplein klein
Sagt, wer mag das Männlein sein,
das da steht auf einem Bein
mit dem kleinen schwarzen Käppelein?
(Sie hält das Hagenbuttenkränzchen in die Höhe und betrachtet es von allen Seiten.)
Mit dem kleinen schwarzen Käppelein!
HÄNSEL
(kommt hervor und schwenkt jubelnd sein Körbchen)
Juch-he!
Mein Erbelkörbchen ist voll bis oben!
Wie wird die Mutter den Hänsel loben!
GRETEL
(aufstehend)
Mein Kränzel ist auch schon fertig! Sieh,
so schön wie heute ward's noch nie!
(Sie will den Kranz Hänsel auf den Kopf setzen.)
HÄNSEL
(barsch abwehrend)
Buben tragen doch so was nicht!
Passt nur für ein Mädchengesicht!
(Er setzt ihr das Kränzlein auf.)
Hei, Gretel, fein's Mädel! Ei der Daus!
Siehst ja wie die Waldkönigin aus!
GRETEL
Seh' ich wie die Waldkönigin aus,
so reich mir auch den Blumenstrauss!
HÄNSEL
(gibt ihr den Strauss)
Waldkönigin mit Szepter und Kron,
da nimm auch die Erbeln, doch nasch nicht davon!
(Er gibt ihr das Körbchen voll Erdbeeren in die andere Hand und lässt sich gleichsam huldigend auf die Knie vor ihr nieder. In diesem Augenblicke ertönt der Ruf eines Kuckucks.)
(Mit der Hand deutend.)
Kuckuck, Kuckuck, Eierschluck!
GRETEL
(schalkhaft)
Kuckuck, Kuckuck, Erbelschluck!
(Sie nimmt eine Beere aus dem Körbchen und schiebt sie Hänsel in den Mund, der sie schlürft, als trinke er ein Ei aus.)
HÄNSEL
(aufspringend)
Ho-ho! Das kann ich auch, gib nur acht!
(Er nimmt einige Beeren und lässt sie in Gretels Mund rollen.)
Wir machen's wie der Kuckuck schluck'
wenn er in fremde Nester guckt!
Kuckuck, Eierschluck!
(Es beginnt zu dämmern.)
GRETEL
Kuckuck, Erbelschluck,
HÄNSEL
Setzest deine Kinder aus!
GRETEL
(zugreifend)
Kuckuck, gluck gluck!
HÄNSEL
... Trinkst die fremden Eier aus!
GRETEL
Kuckuck, schluck schluck!
(Hänsel lässt sich eine Hand voll Erdbeeren in den Mund rollen.)
Sammelst Beeren schön zu Hauf!...
HÄNSEL
(zugreifend)
Kuckuck, gluck gluck!
GRETEL
...Schluckst sie, Schlauer, selber auf!
HÄNSEL
Kuckuck, schluck schluck!
(Im Übermute raufen sie sich schliesslich um die Beeren. Hänsel trägt den Sieg davon und setzt den Korb vollends an den Mund, bis er leer geworden.)
GRETEL
(entreißt ihm den Korb)
Hänsel, was hast du getan, o Himmel!
Alle Erbeln gegessen, du Lümmel!
Wart nur, das gibt ein Strafgericht!
Denn die Mutter, die spasst heute nicht!
HÄNSEL
(ruhig)
Ei was, stell dich doch nicht so an!
Du, Gretel, du hast's ja selber getan!
GRETEL
Komm, wir wollen rasch neue suchen!
HÄNSEL
Im Dunkeln wohl gar, unter Hecken und Buchen?
Man sieht ja nicht Blatt, nicht Beere mehr!
Es wird schon dunkel rings umher!
GRETEL
Ach, Hänsel, Hänsel, was fangen wir an?
Was haben wir törigen Kinder getan!
Wir durften hier nicht so lange säumen!
(Der Kuckuck ertönt, etwas näher als vorhin.)
HÄNSEL
Horch, wie es rauscht in den Bäumen!
Weisst du, was der Wald jetzt spricht
Kindlein, Kindlein, fragt er, "fürchtet ihr euch nicht?"
(Er späht unruhig umher, endlich wendet er sich verlegen zu Gretel)
Gretel, ich weiss den Weg nicht mehr!
GRETEL
(bestürzt)
O Gott! Was sagst du? Den Weg nicht mehr?
HÄNSEL
(sich mutig stellend)
Was bist du für ein furchtsam' Wicht!
Ich bin ein Bub' und fürcht' mich nicht!
GRETEL
Ach, Hänsel, gewiss geschieht uns ein Leid!
HÄNSEL
Ach, Gretel, geh, sei doch gescheit!
GRETEL
Was schimmert denn dort in der Dunkelheit?
HÄNSEL
Das sind die Birken im weissen Kleid.
GRETEL
Und dort, was grinset daher vom Sumpf?
HÄNSEL
(stammelnd)
Das ist ein glimmernder Weidenstumpf!
GRETEL
Was für ein wunderlich Gesicht
macht er soeben, siehst du's nicht?
HÄNSEL
Ich mach' dir 'ne Nase! Hörst du's? Du Wicht!
GRETEL
(ängstlich)
Da sieh! Das Lichtchen, es kommt immer näh'r!
HÄNSEL
Irrlichtchen hüpfet wohl hin und her.
Gretel, du musst beherzter sein!
Wart, ich will einmal tüchtig schrein!
(Geht einige Schritte zum Hintergrund und ruft durch die hohlen Hände.)
Wer da?
STIMMEN
(wie vom Ilsenstein her)
Er da! Er da! Er da! Er da!
(Die Kinde, schmiegen sich erschreckt aneinander.)
GRETEL
(etwas zaghaft)
Ist jemand da?
STIMMEN
Ja! Ja!
(Die Kinder schaudern zusammen.)
GRETEL
Hast du's gehört? 's rief leise "Ja!"
Hänsel, sicher ist jemand nah!
(weinend)
Ich fürcht' mich, ich fürcht' ich,
o wär ich zu Haus!
Wie sieht der Wald so gespenstig aus!
HÄNSEL
Gretelchen, drücke dich fest an mich,
ich halte dich, ich schütze dich!
(Ein dichter Nebel steigt au und verhüllt den Hintergrund gänzlich.)
GRETEL
Da kommen weisse Nebelfrauen!
Sieh, wie sie winken und drohend schauen!
Sie kommen, sie kommen, sie fassen uns an!
(Schreiend, eilt entsetzt unter den Baum und verbirgt sich, auf die Knie stützend, hinter Hänsel.)
Vater! Mutter! Ah!
(In diesem Augenblicke zerreisst der Nebel links: ein kleines graues Männchen mit einem Säckchen auf dem Rücken wird sichtbar.)
HÄNSEL
Sieh dort, das Männchen!
GRETEL
Ah!
HÄNSEL
Schwesterlein! ...
... Was mag das für ein ...
Männchen sein?
GRETEL
Ach!
(Das Männchen nähert sich mit freundlichen Gebärden den Kindern, die sich nach und nach beruhigen.)
SANDMÄNNCHEN
(den Kindern Sand in die Augen streuend)
Der kleine Sandmann bin ich, st!
und gar nichts arges sinn' ich, st!
euch Kleinen lieb' ich innig, st!
bin euch gesinnt gar minnig, st!
Aus diesem Sack zwei Körnelein
euch Müden in die Äugelein:
die fallen dann von selber zu,
damit ihr schlaft in sanfter Ruh';
und seid ihr brav und fein geschlafen ein:
dann wachen auf die Sterne,
aus hoher Himmelsferne;
gar holde Träume bringen euch die Engelein!
Drum träume, träume, Kindchen, träume,
gar holde Träume bringen euch die Engelein!
(Versinkt)
HÄNSEL
(schlaftrunken)
Sandmann war da!
GRETEL
(ebenso)
Lass uns den Abendsegen beten!
(Sie kauern sich nieder und falten die Hände)
GRETEL, HÄNSEL
Abends will ich schlafen gehn,
vierzehn Engel um mich stehn:
zwei zu meinen Häupten,
zwei zu meinen Füssen,
zwei zu meiner Rechten,
zwei zu meiner Linken,
zweie, die mich decken,
zweie, die mich wecken...
GRETEL
...zweie, die mich weisen
zu Himmels Paradeisen!
HÄNSEL
... zweie, die zum Himmel weisen!
Sie sinken aufs Moos zurück und schlummern, Arm in Arm verschlungen, alsbald ein. Gänzliche Dunkelheit. Nun dringt plötzlich ein heller Schein durch den Nebel, der sich alsbald wolkenförmig zusammenballt und die Gestalt einer Treppe annimmt.
Vierzehn Engel, in lichten, lang herabwallenden Gewändern, schreiten paarweise, wahrend das Licht an Heiligkeit zunimmt, in Zwischenräumen die Wolkentreppe hinab und stellen sich, der Reihenfolge des "Abendsegens" entsprechend, um die schlafenden Kinder auf. Das erste Paar zu den Häupten, das zweite zu den Füssen, das dritte rechts, das vierte links; dann verteilen sich das fünfte und das sechste Paar zwischen die andern Paare, so dass der Kreis der Engel vollständig geschlossen wird. Zuletzt tritt das siebente Paar in den Kreis und nimmt als "Schutzengel" zu beiden Seiten der Kinder Platz. Die übrigen Engel reichen sich nunmehr die Hand und führen einen feierlicben Reigen um die Gruppe auf. Die ganze Szene ist von intensivem Lichte erfüllt. Während die Engel sich zu einem malerischen Schlussbilde ordnen, schliesst sich langsam der Vorhang.